Mazin Sulaiman über Willkommenskultur

Willkommenskultur
Eine Analyse vom Mazin Sulaiman, Student der Kulturwissenschaften an der Europa Universität Viadrina, entstanden im Rahmen des Seminars „Transnationale Medien. Nachbarschaftskultur“:

1. Migration in Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland liegt im Herzen Europas und ist mit 80 Millionen Einwohner der bevölkerungsreichste Staat Europas. Laut des Statistischen Bundesamtes lebten Ende 2014 8,2 Millionen Ausländer in Deutschland. (Auswärtiges Amt 2015 und Statistisches Bundesamt 2015). Insbesondere durch die voranschreitende Alterung der Gesellschaft und die seit Jahren niedrige Geburtenrate, ist Deutschland von der Zuwanderung abhängig. Auch um den Industriestandort Deutschland aufrecht zu erhalten, ist Deutschland immer mehr auf ausländische Arbeitskräften angewiesen. Im Jahr 2013 kamen mehr als 1 Mio. Menschen nach Deutschland, somit erlangt das Thema Migration in Deutschland politisch und gesellschaftlich immer mehr an Bedeutung (BPB 2007). Im Zuge dessen hat sich die Diskussion zu diesem Thema deutlich verändert.

Migration wird heute von breiten Teilen der Bevölkerung als eine Chance für die Zukunft Deutschlands empfunden und in der Politik wird darüber debattiert, welche Migranten Deutschland braucht und vor allem wie man die Migration regulieren kann (Wirtschaftsdienst 2014).

Die Bundesrepublik Deutschland blickt auf eine lange Migrationsgeschichte zurück. Schon vor dem ersten Weltkrieg kamen die ersten Migranten, vor allem aus Polen nach Deutschland und halfen in der schnell wachsenden Industrie. Damals war eine dauerhafte Migration dieser Arbeiter aber noch unerwünscht, daher wurde die Migration streng kontrolliert. Nach dem ersten Weltkrieg ging die Zahl der Arbeitsmigranten zurück, gleichzeitig stieg jedoch die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen in Deutschland deutlich an. Zur Zeit des Nationalsozialismus war die Migration in Deutschland dann noch stärker von Flucht und Vertreibung sowie Zwangsarbeit geprägt. Nach Ende des Zweiten Weltkrieg gingen viele ehemalige Zwangsarbeiter zurück in ihre Heimatländer oder wanderten nach Übersee aus.

Die Integration der verbliebenen Einwanderer war im zerstörten Deutschland der Nachkriegszeit jedoch lange nicht von vorrangiger Bedeutung (BPB 2005).

Erst zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges fingen deutsche Unternehmen und Behörden wieder an, Millionen von Arbeitskräften ins Land zu holen. So kamen zwischen 1955 und 1973 Arbeiter aus unterschiedlichen Ländern nach Deutschland um den Nachkriegsaufbau voran zu bringen. Diese ehemaligen Gastarbeiter stellen bis heute den Großteil der Deutschen mit Migrationshintergrund dar (BPB 2005).

Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges kamen immer mehr Menschen aus Ost-, Mittel- und Süd-Europa nach Deutschland. Viele der Migranten stammten aus der ehemaligen Sowjetunion und dem ehemaligen Jugoslawien, diese kamen als Asylsuchende oder Flüchtlinge nach Deutschland. Die deutsche Politik war damals mit den hohen Zahlen an Migranten und Flüchtlingen überfordert und war nicht in der Lage die Migrationsbewegungen zu kontrollieren

Außerdem fehlten Konzepte, um diese Menschen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren (BPB 2005).

Seit dem Anwerbestopp für Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten aus dem Jahr 1973, war es für ausländische Fachkräfte kaum noch möglich, nach Deutschland einzuwandern. Diese Verhältnisse änderten sich erst im Jahr 2000, mit der Einführung der sogenannte „deutschen Greencard“, die als Lösung für den Fachkräftemangel im Bereich der IT- und Kommunikationstechnologie geschaffen wurde (Die Bundesregierung II 2015).

Im Jahr 2005 wurde die „deutsche Greencard“ vom in Kraft tretenden Einwanderungsgesetz abgelöst. Seit diesem Zeitpunkt hat sich die Sicht der Deutschen auf das Thema Migration verändert und Deutschland nimmt sich immer mehr als Einwanderungsland wahr. Auch eine Studie des OECD zeigt, dass Deutschland im Ausland immer attraktiver und beliebter wird. Deutschland gehört demnach seit den letzten Jahren zu den beliebtesten Einwanderungsländern weltweit (Reuters 2014).

2. Asylbewerber in Deutschland

Im Jahr 2014 gab es in Deutschland so viele Asylbewerber wie noch nie zuvor, mehr als 200.000 Menschen stellten einen Asylantrag in Deutschland. Somit hat Deutschland europaweit die höchste Zahl an Asylbewerbern, gefolgt von Schweden mit mehr als 81.000 Bewerbern und Italien mit 64.000 Bewerbern. Die meisten Asylbewerber im Jahr 2014 in Deutschland waren Menschen aus Syrien, gefolgt von Serbien und Eritrea (Eurostat 2015).

Mit der Zeit zeigte sich immer deutlicher, dass die deutschen Behörden mit der hohen Anzahl der Flüchtlinge und den zu bearbeitenden Asylanträge ziemlich überfordert sind. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kommt bei der Bearbeitung der Anträge nicht hinterher, denn der Behörde fehlen Mitarbeiter, welche die Anträge prüfen und bearbeiten können. Aus diesem Grund sollen zeitnah 2000 neue Mitarbeiter eingestellt werden um die 200.000, auf Grund des  Personalmangels, aufgelaufenen Anträge zu bearbeiten.

Momentan kommt es aber immer noch zu langen Bearbeitungszeiten der Anträge. Aus diesem Grund wurden neue Maßnahmen beschlossen, um die Bearbeitung der Anträge schneller und effektiver zu gestalten. Die Anträge von Menschen aus Syrien oder dem Irak sollen z.B. künftig innerhalb kürzester Zeit bearbeitet werden, da diese meistens asylberechtigt sind (Flüchtlingsrat Niedersachsen 2015).

In Deutschland sind nach Artikel 16a des Grundgesetzes alle Personen asylberechtigt, die in ihrem Heimatland politisch durch den Staat verfolgt werden. Außerdem gilt in Deutschland die Genfer Flüchtlingskonvention, nach welcher Flüchtlinge ein Recht auf Asyl haben, wenn sie ihren Heimländern auf Grund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder ihre Angehörigkeit als eine bestimmte soziale Gruppe benachteiligt werden oder ihre Freiheit bedroht wird. Wenn über einen Antrag positiv entschieden wurde, bekommt der jeweilige Antragsteller zunächst eine dreijährige Aufenthaltsgenehmigung (Spiegel online 2015).

Besonderes kritisch wird in Deutschland das Bleiberecht diskutiert. Trotz aller Kritik hat die Bundesregierung vor Kurzem eine Reform des Bleiberechtes beschlossen. Demnach sollen Flüchtlinge, die bei ihrer Einreise falsche oder unvollständige Angaben gemacht haben, schneller abgeschoben werden. Die Organisation pro Asyl kritisiert diese Reform und bezeichnet das Vorgehen als „völlig unangemessene Härte“ gegen schutzsuchende Menschen aus Krisenregionen. Besondere Sorgen bereitet dabei die Erleichterung und Ausweitung der Abschiebehaft, laut der Reform können Asylbewerber in Abschiebehaft kommen, nur weil sie aus einem anderen EULand eingereist sind (FAZ 2015).

Laut pro Asyl leben in Deutschland ca. 75.000 Menschen ohne Aufenthaltsrecht. Diese Menschen führen ein Leben in Ungewissheit, denn in Deutschland sind sie nur geduldet und ständig von einer Abschiebung bedroht. Deshalb fordert pro Asyl ein Bleiberecht für alle Geduldeten in Deutschland, denn nur so ist es für diese Menschen möglich, sich in die Gesellschaft zu integrieren (pro Asyl 2015).

Zuletzt heitzte das Flüchtlingsmädchen Reem durch ihr Auftritt in dem Medien, während eines Bürgerdialogs mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine heftige 4 Debatte zum Thema Asyl in Deutschland aus. Die junge Palästinenserin floh vor vier Jahren mit ihrer Familie aus dem Libanon. Der Vater des jungen Mädchens kann keine Arbeit aufnehmen, da er keine Arbeitserlaubnis hat, obwohl er als Schweißer eine Arbeitsstelle bekommen könnte. Reem verdeutlichte auch der Bundeskanzlerin, unter welchem psychischen Druck sie steht und mit welchen Ängsten sie leben muss, da die Familie jederzeit auch abgeschoben werden kann. Sie beklagt ihre unsicherere Zukunft im Vergleich zu ihren Mitschülern, obwohl sie gut in der Schule ist. Für Reem ist das jetzige Bleiberecht logisch nicht zu erklären und sie empfinden es als ungerecht (Der Tagesspiegel 2015).

In Zusammenhang mit der hohen Zahl an Flüchtlingen und Asylbewerbern wird aktuell wieder über ein neues Einwanderungsgesetz debattiert. Diese Debatte hat jedoch wenig mit der Realität zu tun, denn die meisten Asylbewerber fliehen vor Krieg und Zerstörung und können die Voraussetzung für eine legale Einwanderung gar nicht erfüllen.

Einwanderung und Asyl sind zwei unterschiedliche Themen, die differenziert und von einander getrennt diskutiert werden müssen.

3. Willkommenskultur in Deutschland

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung ergab, dass die positive Einstellung gegenüber Einwandern in Deutschland zunimmt, auch wenn es dabei regionale Unterschiede gibt. Besonderes zwischen Ost und West ist ein deutlicher Unterschied zu verzeichnen. Die Erfahrungen haben hierbei gezeigt, dass Menschen, die seit langer Zeit mit Migranten in Kontakt kommen, eine positivere Einstellung gegenüber diesen haben, als diejenigen, die kaum Kontakt zu Einwandern haben.

Die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Aydan Özoğuz, plädiert auch aus diesem Grund dafür, dass die Organisationen, die für einen stärkeren Zusammenhalt in der Gesellschaft und ein offenes Miteinander einstehen, mehr Unterstützung erhalten sollen (Die Bundesregierung I 2015).

Viele Menschen in Deutschland schließen sich schon heute privat zusammen, um Flüchtlingen zu helfen. Es werden „Willkommensinitativen“ gegründet und es wird mit großer Hilfsbereitschaft Unterstützung angeboten. Laut einer Studien über „Die Tätigkeit in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit“ der Humboldt Universität zu Berlin, engagieren sich tausende Deutsche ehrenamtlich und bieten Flüchtlingen ihre Hilfe an. Die Ehrenamtlichen begleiten die Flüchtlinge zu den Behörden, bieten Sprachunterricht an oder geben den Kindern Nachhilfe für die Schule.

Auch Kirchen und andere Hilfsorganisationen engagieren sich für die Flüchtlinge und heißen sie in ihrer Umgebung willkommen. Experten verzeichnen, im Vergleich zu den 1990er Jahren, eine positive Entwicklung in diesem Bereich, bei ungefähr gleich hohen Flüchtlingszahlen (BIM 2015). In Berlin z.B. gibt es nahezu in jedem Bezirk mindestens eine Initiative, die eine Betreuung sowie Beratung für Flüchtlinge anbietet (Flüchtlingsrat Berlin 2015). Die Studie kritisiert jedoch, dass die Behörden die Arbeit der freiwilligen Helfer noch mehr unterstützen könnten, auch Kirchen und Sportvereine sollen mehr Unterstützung leisten, um die Unterstützungsangebote (Sprachkurse, Behördengänge noch effektiver gestalten zu können (BIM 2015). Die Arbeit der Initiativen ist sehr wichtig für die Flüchtlinge. Ein Beispiel hierfür ist Khalid, ein Flüchtling aus Syrien, der regelmäßig die Initiative “Neue Nachbarschaft“ in Berlin-Moabit besucht. Er kann dort deutsch lernen und Freunde treffen. In einem Interview beschrieb er die Initiative als eine Familie, in der er sich willkommen fühlt. Die Initiative ist dabei ein Ort der Begegnung mit Freiwilligen, die Deutsch-Unterricht anbieten, bei Behördengängen Begleitung anbieten und Briefe von den Ämtern übersetzen. Aber auch für Freizeitaktivitäten ist die Initiative da, Geflüchtete und Ehrenamtlicher kochen regelmäßig zusammen, veranstalten Flohmärkte und Konzerte (http://neuenachbarschaft.de).

Seitdem die Anzahl der Asylsuchende in Deutschland stark angestiegen ist, nehmen jedoch auch negative Einstellungen gegenüber den Flüchtlingen in der Gesellschaft zu und Vorurteile verbreiten sich immer mehr.

Zum Einen wird behauptet, Deutschland könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen und zum Anderen wird vorgeschoben, dass viele Flüchtlinge nur aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen seien und somit nicht asylberechtigt wären. In den vergangenen Monaten haben sich immer mehr Gruppierungen formiert und gegen Flüchtlingsheime protestiert. Medienberichten zu Folge stieg die Zahl der rassistischen Übergriffe gegenüber Flüchtlingen und Migranten seit Beginn dieser Demonstrationen deutlich an (Zeit online I 2015).

Des Weiteren gab es immer wieder Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, bei denen diese von Unbekannten niedergebrannt wurden. Die Politik versucht dabei, die Situation unter Kontrolle zu bringen und verspricht eine schnelle Untersuchung von solchen Übergriffen (Tagesschau.de I 2015).

Doch die Anschläge auf Asylbewerberheime nehmen tagtäglich weiter zu und mittlerweile werden fast jeden Tag neue Anschläge verübt. Selbst Helfer des Roten Kreuzes und Mitarbeiter von Behörden wurden dabei schon attackiert. Seit 2012 hat sich die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte von 24, auf 150 Angriffe im Jahr 2014 versechsfacht (Tagesschau.de II 2015). Im ersten Halbjahr des Jahres 2015 wurden bereits mehr als 200 Angriffe auf Flüchtlingsheime registriert (Tagesschau.de III 2015).

Gegen die derzeitige Entwicklung scheint die Politik wenig bewirken zu können, jedenfalls haben die Bundesregierung und die Landesregierungen bis jetzt keine neuen Konzepte bzw. Lösung präsentiert, wie sie die Asylsuchenden schützen wollen (Zeit online II 2015).

Obwohl solche Meldungen und ähnliche Berichte aktuell häufig in den Medien thematisiert werden und in Berichterstattungen zu lesen sind, gibt es viele positive Beispiele für die Entwicklung der Willkommenskultur in Deutschland. Die Flüchtlinge und Migranten werden vom Großteil der Gesellschaft zunehmend als eine Notwendigkeit für die deutsche Wirtschaft und den Ausgleich der Alterung der Gesellschaft angesehen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Deutschland zunehmend eine Willkommenskultur existiert. Trotz aller negativen Ereignisse, ist die Mehrheit der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen offen. Die Hilfsbereitschaft zeigt sich vor allem durch die unzähligen Willkommensinitativen und Vereinen, die sich für die Flüchtlinge engagieren. Eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung hat ergeben, dass die Anzahl der ehrenamtlichen Helfer in der Flüchtlingsarbeit in den vergangenen drei Jahren um ca. 70 % angestiegen ist (BPB 2015).

Jedoch muss die Politik versuchen, die freiwilligen Helfer bei ihrer Arbeit noch intensiver zu schützen und unterstützen. Viele Freiwilliger wünschen sich z.B. eine Vereinfachung der bürokratischen Hürden bei den Ämtern, außerdem übernehmen viele Freiwillige die Arbeit der zuständigen Behörden, da es durch Personalmangel bei den Behörden zu Bearbeitungsrückständen kommt. Besonderes die zunehmende Bedrohung von Flüchtlingen durch Rechtsextremen an bestimmten Orten müssen verhindert werden. Denn diese Bedrohung erzeugt bei den Flüchtlinge eine Angst, die der deutschen Willkommenskultur gegenübersteht.

Zum Thema Asylsystem in Europa könnt Ihr hier nachlesen:

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